Boulevard Noir

Seit geraumer Zeit ereignen sich entlang des Boulevard Noirs [bulvaʀ nwaʀ] merkwürdige Dinge:
The [ðə], ohnehin schon immer, high sea [haɪ siː] hat sich mittler- weile mehr als zwei Mann hoch aufgetürmt.
Streng geordnete, weiße Quadrate haben das bis vor kurzem noch grüne Nadelkleid des Fichtenbaums vollständig ersetzt.
Im menschenleeren tent de la tête [tent d(ə) la tɛt] bedroht eine farbenfrohe Supernova die papierdünnen Wände des Zeltes zu durchbrechen.
Ein au revoir world [o ʀ(ə)vwaʀ wɜːld] hat sich auf einer weißen Wand niedergelassen: Niemand hat auch nur eine Idee davon woher es kommt, noch wozu es imstande ist, noch wie lange es vorhat zu bleiben.
Und als ob das noch nicht genug wäre, sammeln sich an einer anderen Wand bereits die nächsten sich am Ende ihrer Reise befindenden Sternengreise.

Aufgrund der unheimlichen Veränderungen haben sämtliche Be- wohner des Boulevards, selbigen verlassen.
Bis auf einen einzigen - ein halber, mit einer weiß rauschenden Weste bekleideter, weißer Mann:
Dr. Main-Tête [doktor mɛ̃-tɛt].



Spot 1 - the high sea

Aus den Grabkammern der alten Ägypter und der Capella degli Scrovegni 1 [kapˈpɛlla ˈdeʎʎi ˈskrɔveɲɲi] kommend, finden sich un- zählige Sterne auf der ultramarinfarbenen Wasseroberfläche eines sich meterhoch auftürmenden Meeres wieder.
Selbst der Himmel über dem Ozean ist sonnenbedeckt.
Es fehlen nicht viele Gestirne und man würde die beiden, norma- lerweise klar voneinander getrennten Welten des Himmels und des Wassers, nicht mehr auseinanderhalten können.

Dr. Main-Tête kann nicht sagen, ob er die Wassermassen schön oder grässlich findet. Grässlich, weil ihm diese Bedrohung die sie ausstrahlen Angst macht. Schön, weil man das Meer schön finden muss, beinahe.
Einer Sache jedoch, ist er sich trotzdem sicher. Er weiß: „Dieses Blau, das hinter den Sternen liegt, gilbt niemals 2.“
Aber er weiß auch, dass es sich um nur kurzen Sonnenglanz auf der Oberfläche eines dunklen und kalten Meeres 3 handeln könnte, sollten die Wände des tent de la tête nicht halten und die Katastrophe eintreten, vor der die Bewohner der gesamten Stadt geflohen sind.



Spot 2 - Schneebaum

she wears a white squared dress
lost her needles
lost in needlessness



Spot 3 – au revoir world

Ein Fallschirm der keinem Fallschirmspringer dient.
Ein Käfig der niemanden gefangen hält.
Ein Gewölbe durch welches man den Himmel sieht.

Fällt Dr. Main-Tête ein, wenn er sich das au revoir world so an- schaut. Er fragt sich, wofür es gut sein könnte. Oder ob es nie dafür gedacht war irgendeinem Sinn oder Zweck zu dienen. Dass es gefährlich sein könnte glaubt er nicht, denn wenn er den Grundriss von dem die Wölbung ausgeht genauer betrachtet, kommt es ihm so vor, als handle es sich um die Umrisslinie des Musters im Rückstrahler, des alten Fahrrads, seines verstorbenen Vaters.
Plötzlich ist ihm dieses, ihn anfangs etwas seltsam anmutende, au revoir world, durchaus sympathisch.
Von zartem Optimismus getragen bricht Main-Tête in Richtung wall of dead ends [wɔ:l ɒv ded ends] auf.



Spot 4 – the wall of dead ends

Der Doktor ist irritiert von der wall, gleichzeitig aber auch irgend- wie gerührt. Zwei, der drei an der Wand weilenden Noven*, leuchten leicht.
Ganz wider seiner Erwartung: Kurz bevor sie die Stadt verlassen haben, beobachteten ein paar Bewohner des Boulevard Noirs, die Ankunft der Sonnen an der wall of dead ends. Sie berichteten von grell leuchtenden Ungetümen, deren gnadenlose Helligkeit einen Menschen binnen weniger Augenblicke des Augenlichts berauben würde.
Entweder die Leuchtkraft der Sterne hat dermaßen abgenommen, oder der Wahrheitsgehalt des Tratsches in der Stadt.

Beim dritten Stern muss es sich um eine Supernova handeln, denkt Main-Tête. Er kann es nicht mit Sicherheit sagen, weil das Gestirn schwarz ist und er bis dahin geglaubt hatte Supernoven wären bunt. Er ist zwar Doktor, aber leider nicht der Astronomie. Wäre er Doktor der Astronomie, dann hätte er den Boulevard Noir schon längst verlassen.

*Mz. von Nova: kurzfristig hell aufleuchtender Stern.



Spot 5 – tent de la tête

Wann die Supernova, aufgrund welcher die Stadt zur Geisterstadt geworden ist, in das tent de la tête eingezogen ist, ist unklar - man geht jedoch davon aus, dass sie schon seit Längerem in ihm rotiert. Wahrscheinlich glaubt sie, getäuscht von den spiegelnden Wänden im Inneren des Zeltes, die Größe des Raumes wäre endlos - dass sie sich hier uneingeschränkt ausbreiten könnte. Dabei ist ihr in keinster Weise bewusst, dass sie neben dem Zelt, alles andere in ihrer Umgebung massiv gefährdet.

Würde Dr. Main-Tête es nicht besser wissen, käme er niemals auf die Idee, dass man das aus lauter Dreiecken bestehende Gebilde betreten könnte. Doch er verbrachte früher viel Zeit in und rund um dieses Zelt, dass ein bisschen so aussieht als wäre es nicht von dieser Welt. Jetzt aber, vor der unscheinbaren Eingangstür des Gebäudes stehend, zögert er: Ist es möglich einen Blick auf das Himmelsschauspiel zu werfen ohne dabei selbst Schaden zu nehmen, zu verbrennen oder zu erblinden?

Er hofft es, öffnet die Tür und geht in sein früheres schwarzes Loch. Er hat Glück. Weder Hitze noch Grelligkeit herrschen in die- sem Raum. Ganz im Gegenteil: das Licht ist angenehm und die Temperatur normal. Er fühlt sich beinahe wohl.
Da ist es also, das Ding, vor dem alle so große Angst haben. Eigentlich macht es einen völlig harmlosen Eindruck...
Er sieht der Supernova eine ganze Weile dabei zu, wie sie sich gemächlich um ihre eigene Achse dreht.

Doch dann bemerkt er, dass er sich über die spiegelnden Wände von hinten betrachten kann.
Ja, er sieht seinen Rücken. Aber was er außerdem sieht, lässt ihn augenblicklich zusammenzucken: Auf der Rückseite seiner Weste befindet sich ein Schriftzug den er dort noch nie zuvor gesehen hatte. Er versucht ihn zu lesen, aber es will ihm schwer gelingen - das Licht ist nicht stark und die Spiegel sind schwarz.
Vom anfänglichen Wohlbefinden, das er verspürte als er das Zelt betrat, ist nichts mehr übrig.
Endlich kann er das Wort auf seinem Rücken entziffern:


t
e
r
m
i
n
a
t
e
d

Wie geht das, fragt sich Dr. Main-Tête. Was hat das zu bedeuten? Er weiß, dass er nicht erloschen ist, sonst wäre er nicht hier. „Ich existiere, weil ich nicht erloschen bin!” , sagt er sich.
Von der Supernova hier aber weiß er, das nicht viel übrig bleiben wird, dass das Licht, das sie ausstrahlt, bald Dunkelheit sein würde. Und plötzlich überkommt es ihn, das Grauen, das den Geist erfasst der an den Tod denkt. 4

Das Licht, von dem er gedacht hatte, dass es das seiner Augen rauben könnte, hat ihm nicht geschadet. Im Gegenteil, es hat seinen Geist erhellt: Er weiß jetzt, dass er bald sterben muss.
Er hat die hier herrschende, lebensbedrohliche Gefahr unter- schätzt, oder ignoriert, oder sie war ihm in vollem Ausmaß be- wusst, aber egal.

Doch vielleicht hat er den ganzen Boulevard Noir erfunden, fragt er sich jetzt.
Und er hatte es einmal gewusst, dass alles ein Spiel ist und er dessen main tête [meɪn tɛt].
Irgendwann jedoch, haben die Dinge ein zu großes Eigenleben ent- wickelt und er konnte nicht mehr unterscheiden zwischen dem, was wirklich ist und dem, was sich in seinem eigenen Kopfzelt abspielt. Er hat Angst, dass die Wände nicht stark genug, ja womöglich schon eingerissen sind.



Erläuterungen

Boulevard Noir

Der Boulevard Noir ist ein fiktiver Boulevard, entliehen aus Jean-Paul Sartres Roman Der Ekel - kein typischer Boulvard. Die Vor- stellung, welche man von der Beschreibung im Fremdwörter- lexikon des Duden von einem Boulevard bekommt, hat wenig mit dem zu tun, was Sartre in seinem Buch schildert.
Nicht von einer breiten [Ring]straße, Prachtstraße 5 ist die Rede, sondern von geraden und schmutzigen Gängen, in denen es zieht, mit breiten Bürgersteigen ohne Bäume. 6
[...]
Niemand hat sich die Mühe gemacht, ihn [den Boulevard Noir] herauszuputzen... 7

Der Boulevard Noir diente nicht als Inspiration für die im Rahmen der Diplompräsentation gezeigten Werke, sondern vielmehr als Ausgangspunkt für die, den Arbeiten gewidmete, (erfundene) Geschichte.

the high sea
Schneebaum
au revoir world
the wall of dead ends
tent de la tête

sind Titel der gezeigten Bilder und Installationen.

Dr. Main-Tête

Ist ein erdichteter Charakter. Sein Name ein Anagramm des Begriffs terminated. Aus dem französischen übersetzt bedeutet Main-Tête schlichtweg Hand-Kopf. Betrachtet man den Namen aber als englisch-französischen Sprachenmix, dann ist der Doktor Hauptkopf.

Kursives

Bei kursiv Geschriebenem handelt es sich wie oben bereits ersichtlich, teilweise um Titel. Oder es markiert Zitate, erdachte Wörter oder Betonungen.

Eckige Klammern

Innerhalb der Geschichte umfassen sie Begriffe in Lautschrift. Diese sollen verdeutlichen, wie die links nebenan stehenden Titel und Formulierungen gedacht sind.



Anmerkungen & Zitate

1 Auf der Oberfläche der Arbeit the high sea sind zahlreiche achtzackige Sterne zu sehen. Ihre Form stammt von den Gestirnen des Deckenfreskos in der Capella degli Scrovegni in Padua, welche Giotto di Bondone gestaltete.
Neben den achtzackigen Sonnen finden sich auf the high sea auch Sterne mit fünf Zacken, wie sie an den Decken alter, ägyptischer Grabmähler zu finden sind, wieder.

2 vgl. hierzu: Wehlte, Kurt: Temperamalerei.
Einführung in Werkstoffe und Malweisen.
Zweite erweiterte Auflage, Ravensburg: 1946, Seite 74

3 Sartre, Jean-Paul: Der Ekel.
übersetzt von Uli Aumüller.
56. Auflage, Reinbek bei Hamburg: 2013, Seite 240

4 Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos
übersetzt von Vincent von Wroblewsky.
18. Auflage, Reinbek bei Hamburg: 2014, Seite 37

5 Die Dudenredaktion: Duden.
Das Fremdwörtelexikon.
10., aktualisierte Auflage, Mannheim: 2010, Seite 168

6 u. 7 Sartre, Jean-Paul: der Ekel.
übersetzt von Uli Aumüller.
56. Auflage, Reinbek bei Hamburg: 2013, Seite 46 u. 47

Boulevard Noir - Text, Text zum Boulevard Noir - Gesamtkonzept, 2014